Eine Einführung in die Systemtheorie
selbstreferentieller Systeme nach Niklas Luhmann
Einleitung
Niklas LUHMANN (1993), der Begründer der
soziologischen Theorie selbstreferentieller Systeme, knüpft in seiner Theoriekonstruktion
an die Arbeiten Talcott PARSONS an. Sein Ziel ist es, eine fachuniverselle Theorie zu
begründen, die in ihrem Komplexitätsgehalt der Komplexität realer sozialer Systeme -
bis hin zu Gesellschaftssystemen - angemessen ist. LUHMANN schreibt, daß dabei seine
Theorieanlage "eher einem Labyrinth als einer Schnellstraße zum frohen Ende"
(1993, S. 14) gleicht; damit gibt er dem systemischen Charakter seiner Theorie Ausdruck:
Sie hat "einen Komplexitätsgrad erreicht, der sich nicht mehr linearisieren
läßt" (ebd).
Er überwindet den vorherrschenden
systemtheoretischen Gebrauch der Begriffe "Struktur" und "Funktion".
Diese werden zwar weiter verwendet, verlieren jedoch ihre vorrangige Bedeutung. Statt
dessen werden die Begriffe Selbstreferentialität und Autopoiesis zu
grundlegenden Prämissen. Dies geschieht durch Anknüpfung an die Theorie MATURANAS (vgl.
1982, 1987) und VARELAS, in der die Selbstorganisation des Systems primär in den Blick
genommen wird.
Die allgemeine Systemtheorie muß von den
speziellen Systemtheorien unterschieden werden. Lebendige Systeme divergieren von nicht
lebendigen durch Autopoiesis. Das bedeutet, daß Lebewesen sich immer wieder selbst
organisieren und reproduzieren. Soziale und psychische Systeme werden von LUHMANN
zusätzlich durch das Operieren mit Sinn von anderen lebendigen Systemen
abgegrenzt. Nicht alle Systeme operieren also nach dem gleichen Modus; sie sind deshalb
streng voneinander zu trennen. Die Kritiker der Systemtheorie, die von einer unkritischen
Übertragung eines technischen Modells auf den sozialwissenschaftlichen Bereich sprechen,
beachten diese Unterscheidung (der heutigen Systemtheorie) oft nicht.
Durch die gemeinsame Sinnverarbeitung kann
auch die Co-Evolution von psychischen und sozialen Systemen beschrieben werden. Beide
Systeme durchdringen (interpenetrieren) sich. Sie stellen sich gegenseitig ihre
Komplexität zur Verfügung, sind in ihrem Sinnverarbeiten und Sinnproduzieren jedoch
eigenständig.
Menschliche Beziehungen stellen nach dieser
Theorie ein soziales System dar, das sich mit zwei psychischen Systemen (Bewußtsein von
zwei Personen) interpenetriert. Im Sinne der hier verwendeten Terminologie gibt es also
drei Sinnsysteme, die sich in aktiver Auseinandersetzung miteinander, aber in
eigenständiger Selbstorganisation parallel entwickeln.
Mit einer solchen Begrifflichkeit kann
beschrieben werden, daß sich Kulturen (als soziale Systeme) verändern, ohne auf jedes
einzelne Individuum gleiche Auswirkungen zu erzielen. Umgekehrt können einzelne Menschen
die Kultur verändern; auf welche Weise sich das vollzieht, ist dabei jedoch nicht durch
die Intention der einzelnen determiniert, sondern abhängig von der Verarbeitung durch das
Kultursystem. Die Übereinstimmungen zwischen psychischen Systemen, die der gleichen
Kultur angehören sind deshalb höher als zu solchen aus anderer kultureller Umwelt, da
die Sinnangebote ähnlicher sind. Ähnlichkeit bedeutet dabei aber nicht Gleichheit. Die
einzelnen sozialen Subsysteme oder psychischen Sinnsysteme unterscheiden sich dabei
nämlich immer, da sie den Sinn, der ihnen bereitgestellt wird, nach ihren eigenen
Modalitäten, selbstorganisatorisch arrangieren. Komplexe sozialwissenschaftliche Probleme
wie abweichendes Verhalten aber auch Phänomene wie Subkulturen können also durch diese
Theorie anschaulich beschrieben werden.
Die Systemtheorie ist heute weit entfernt vom
früheren Strukturfunktionalismus und kann auch Rollentheorie und symbolischen
Interaktionismus theoretisch ineinander integrieren. Die systemtheoretischen Begriffe, die
diese Verbindung zu leisten vermögen, sind Selbstreferentialität und Autopoiesis. Selbstreferentialität
bezeichnet die Fähigkeit jedes lebendigen Systems, einen Bezug zu sich selbst in
Abgrenzung zur Umwelt herzustellen. Die Grenzen des Systems gewinnen hier an
Bedeutung, da die selbst festgelegten Grenzen darüber entscheiden, ob ein offenes
(relativ durchlässiges) oder geschlossenes (relativ undurchlässiges) System vorliegt.
Rigide Systeme wie zum Beispiel Ideologien
(als soziale Sinnsysteme) gelten als geschlossene Systeme, die kaum im Austausch mit ihrer
Umwelt stehen. Deshalb sind ihre Strukturen dauerhafter als das bei offenen Systemen der
Fall sein kann, da letztere sich aktiv mit der Umwelt auseinandersetzen. Bei sich
verändernder Umwelt wird ein rigides System nicht dauerhaft überleben können, da der
Außendruck an der Grenze zwischen System und Umwelt nicht durch Veränderung ausgeglichen
wird. Sinnvoll ist dauerhafte Stabilität nur bei Systemen, die eine relativ konstante
Umwelt haben. Als Beispiel hierfür können Meerestiere genannt werden, die sich in
Jahrmillionen in Erscheinung (Phänotyp) und genetischem Code (Genotyp) nur wenig
verändert haben, da sie - optimal angepaßt an die konstante Umwelt
"Meerestiefe" - kaum Anpassungsleistungen vollbringen mußten. Da lebendige
Systeme immer im Austausch mit der Umwelt (z. B. durch Stoffwechsel) stehen, sind sie
ständig gezwungen, ihre Einheit (Ganzheit) neu herzustellen. Dieser Vorgang wird als
Autopoiesis bezeichnet. Umweltbedingungen werden dabei zwar aufgenommen; in welcher Weise
sie aber ins eigene System integriert werden, wird durch die interne Verarbeitung im
System bestimmt.
Bezüglich Rollentheorie und symbolischem
Interaktionismus kann - durch die Theorie selbstreferentieller System - der Vorgang der
Rollenübernahme folgendermaßen beschrieben werden: Der Mensch trifft in sozialen
Situationen immer auf Erwartungen der Umwelt. Diese Erwartungen werden aber nicht
unverändert übernommen, sondern müssen neu interpretiert und auf die jeweiligen
Situationen angepaßt werden. Eine Veränderung durch die interne Verarbeitung ist dabei
unumgänglich. Rollen als Aggregate der Umwelterwartungen sind somit nie identisch.
Die Theorie selbstreferentieller Systeme kann
dabei als eine Synthese der beiden Gegenpole Existentialismus und Determinismus verstanden
werden. Die Veränderung eines Systems ist zwar von Außeneinflüssen abhängig, wie diese
Außeneinflüsse jedoch intern verarbeitet werden, entscheidet sich in operationaler
Geschlossenheit des Systems. Beim Eintritt der Außeneinflüsse in das System (Input)
wird die Determination gebrochen, da das System sich selbst neu organisiert und damit in
seinem Zustand neu erschafft. Der Output eines lebendigen Systems ist somit nie
vorhersagbar, hier kann lediglich mit Wahrscheinlichkeiten operiert werden. Der gleiche
Input in verschiedenen Systemen oder im gleichen System zu verschiedenen Zeitpunkten kann
deshalb unterschiedlichen Output hervorbringen. Desweiteren kann unterschiedlicher Input
aber auch zu identischem Output führen, was als finale Äquivalenz bezeichnet
wird.
Abstrahierung vom Subjektbegriff
Der Begriff Sinn ist bei LUHMANN
nicht mehr nur auf einzelne Personen anzuwenden. Vielmehr operieren auch soziale Systeme
mit Sinn, der sich nicht mehr auf den Sinn einzelner Menschen zurückführen läßt.
"Sozialen Systemen liegt nicht das
Subjekt, sondern die Umwelt zu Grunde, und mit Zu Grunde
liegen ist dann nur gemeint, daß es Voraussetzungen der Ausdifferenzierung sozialer
Systeme (unter anderen: Personen als Bewußtseinsträger) gibt, die nicht
mitausdifferenziert werden." (LUHMANN 1993, S. 244)
Hier geht LUHMANN auf die Tatsache ein, daß
soziale Gebilde nicht auf die einzelnen Mitglieder reduzierbar sind. Die Summe der
Mitglieder bzw. deren Ziele machen eben nicht das Ganze aus. Die Erfahrung, daß man als
einzelner zum Beispiel dem Staat (als sozialem System) gegenüber steht, wird hier
theoretisch gefaßt. Die sozialen Systeme gehören also zur Umwelt der psychischen Systeme
und umgekehrt. Keines läßt sich allein aus dem anderen erklären. Natürlich bedarf es
psychischer Systeme, wenn es soziale Systeme gibt. Aber auch Bewußtsein wäre ohne
sozialen Bezugsrahmen nicht denkbar. Beide unterschiedlichen Systemarten bedingen sich
somit gegenseitig und stellen in ihrer wechselseitigen Verschränkung eine Co-Evolution
bezüglich ihrer Ausdifferenzierung dar. Keine der beiden Systemarten hat jedoch eine
Vorrangstellung bei dieser Entwicklung. Sowohl Sozialsysteme als auch die
Bewußtseins-Systeme reproduzieren sich selbst.
Eine weitere wesentliche Unterscheidung zur
herkömmlichen Denkweise betrifft die Elemente von Systemen. Es sind hierbei keine
materiellen Gegenstände gemeint. Vielmehr geht es um Handlungen oder Ereignisse. Auch
hier muß also von Subjekten, die als grundlegende Elemente fungieren, abgesehen werden:
"Der Begriff Element ist kein
Letztelement systemtheoretischer Analyse; (...) Entsprechend haben wir den Begriff des
Elements entontologisiert. Ereignisse (Handlungen) sind keineswegs Elemente ohne Substrat.
Aber ihrer Einheit entspricht keine Einheit des Substrats; sie wird im Verwendungssystem
durch Anschlußfähigkeit erzeugt." (LUHMANN 1993, S. 292)
In diesem Kontext sind also nicht die
Personen die Elemente eines sozialen Systems (z. B. einer Beziehung). Vielmehr
stellen die Kommunikationen, die zu einem sozialen System gerechnet werden, die Elemente
des Systems dar.
Selbstreferentialität
Wenn man von Selbstreferenz spricht, geht es
um die Einheit, die ein Element, ein Prozeß oder ein System für sich selbst darstellt.
LUHMANN schreibt in seinem Buch Soziale
Systeme:
"Es gibt selbstreferentielle Systeme.
Das heißt zunächst nur in einem ganz allgemeinen Sinne: Es gibt Systeme mit der
Fähigkeit, Beziehungen zu sich selbst herzustellen und diese Beziehungen zu
differenzieren gegen Beziehungen zu ihrer Umwelt." (1993, S. 31)
Hier ist die Rede vom Vermögen, eine
Unterscheidung vorzunehmen, und zwar die Unterscheidung zwischen inneren und äußeren
Beziehungen. Systeme, die man als selbstreferentiell bezeichnet, nehmen also diese
Differenz von außen und innen wahr.
Selbstreferenz bezeichnet eine bestimmte
Operationsweise eines Systems. Bei dieser Operationsweise kann es nur zu Umweltkontakten
kommen, wenn die Reproduktion der Einheit des Systems gewährleistet ist.
Man kann also sagen, daß sich das System
selbst zum Maßstab macht im Hinblick darauf, ob eine Operation als geeignet angesehen
wird oder nicht. Begrenzungen und Möglichkeiten ergeben sich aus der Umwelt. Diese
können allerdings nur durch Selbstbezug zum Vorschein treten. Der Bezug, den ein System
zu seiner Umwelt hat, wird also durch "die Gesetzmäßigkeiten der autonomen
Operationsweise des Systems" (vgl. WILLKE 1991, S. 193) bedingt. Grenzen und
Möglichkeiten kommunikativer Beeinflussung werden somit von der Umwelt vorgeprägt,
innerhalb des jeweiligen Systems wird jedoch der konkrete Umgang mit den Vorgaben durch
die interne Selbstorganisation vollzogen.
Die Umwelt bietet Möglichkeiten; das System
selbst bestimmt jedoch, welche dieser Möglichkeiten angenommen wird. Dieses Faktum
bezeichnet die innere Geschlossenheit des Systems. Von außen bzw. von der Umwelt können
lediglich Angebote gemacht werden. Hier zeigt sich die Autonomie eines
selbstreferentiellen Systems: Kein Einfluß von außen auf das System kann so getätigt
werden, daß er zwangsläufig der Intention des Beeinflussenden nachkommt. Allein das
System entscheidet durch interne Operationen, in welcher Weise der Impuls von außen
verarbeitet wird. An diesem Punkt kommt das Problem der Kontingenz - der
Nichtnotwendigkeit - ins Spiel. Für das eine System bedeutet Kontingenz Freiheit, da die
Unterschiedlichsten Möglichkeiten der Reaktion zur Disposition stehen. Für das andere
System jedoch bewirkt sie eine Erwartungsunsicherheit. Richten zwei Systeme Erwartungen
aneinander, so ergibt sich das Problem der doppelten Kontingenz: Das jeweils andere System
kann diese Erwartung erfüllen - dies ist jedoch nicht zwingend notwendig. Das Problem der
doppelten Kontingenz löst sich gerade durch den selbstreferentiellen Zirkel: "Ich
tue was Du willst, wenn Du tust, was ich will" (LUHMANN 1993, S. 166). Bei dieser
Verbindung entsteht eine neue Einheit, die nicht auf eines der beteiligten Systeme,
reduzierbar ist. Keine der beiden Systeme muß notwendig in einer bestimmten Weise
reagieren. Durch die beidseitige Einschränkung wird aber Erwartbarkeit ermöglicht, die
für beide Systeme Einschränkung und neue Möglichkeiten gleichzeitig bedeutet. Diese
neue Einheit wird zwar in beiden Systemen als Bewußtseinsinhalt oder als
Kommunikationsschema präsent sein, aber in jedem der Systeme wird vorausgesetzt, daß sie
in dem anderen ebenfalls präsent ist. Auch wenn diese Situation sehr instabil ist (sie
zerfällt auf der Stelle, wenn nichts weiteres geschieht), beinhaltet sie die Möglichkeit
der Entstehung eines sozialen Systems.
Gerade für die Selbstreferenz gilt die
bereits beschriebene Überwindung des Subjektbegriffs als letztbegründendes Element:
"Inzwischen hat sich die Szenerie jedoch
abermals verändert mit der Folge, daß das Subjekt nicht mehr allein steht mit dem
Anspruch, Selbstreferenz zu repräsentieren. Selbstreferenz ist nicht länger ein Privileg
des erkennenden Subjekts (oder: der erkennenden Subjekte). (...) Jedenfalls verfügen alle
Handlungssysteme psychischer und sozialer Integration über Selbstreferenz, und zwar in
einem so fundamentalen Sinne, daß ihre einzelnen Elemente (Handlungen) überhaupt nur im
Selbstkontakt, das heißt in selektiver Bezugnahme auf andere Handlungen desselben
Systems, konstituiert werden können." (LUHMANN 1993, S. 140)
Jede Handlung knüpft also an andere
Handlungen an. Wie diese Anknüpfung aussieht, hängt von der Anschlußfähigkeit
der Handlung ab. Man kann sagen, daß die Erfahrung der Unreduzierbarkeit des Sozialen die
Erfahrung der Selbstreferenz des Sozialen ist.
Psychische Systeme vollziehen natürlich
ebenfalls Selbstreferenz; sie wird bei ihnen in Form von Bewußtsein prozessiert (1993, S.
594). In bezug auf soziale Systeme muß der Begriff Referenz etwas vertieft werden:
Referenz soll ähnlich gebraucht werden wie
der Begriff Beobachtung. Es geht hierbei um eine Operation, die aus "Unterscheidung
und Bezeichnung" (1993, S. 596) besteht:
"Die Begriffe Referenz und Beobachtung,
also auch Selbstreferenz und Selbstbeobachtung, werden eingeführt mit Bezug auf das
operative Handhaben einer Unterscheidung. Sie implizieren die Setzung dieser
Unterscheidung als Differenz. In den Operationen des Systems kann diese Setzung als
Voraussetzung gehandhabt werden. Mehr als ein Operieren mit dieser Voraussetzung ist
normalerweise nicht erforderlich. Man will Tee zubereiten. Das Wasser kocht noch nicht.
Man muß also warten. Die Differenzen Tee/andere Getränke, Kochen/Nichtkochen,
Wartenmüssen/Trinkenkönnen strukturieren die Situation, ohne daß es nötig oder auch
nur hilfreich wäre, die Einheit der jeweils benutzten Differenz zu thematisieren."
(LUHMANN 1993, S. 597)
Reflexion stellt die Unterscheidung von
System und Umwelt dar. Man kann also von Selbstreferenz sprechen. Das Selbst stellt das
System dar, auf das sich die selbstreferentielle Operation bezieht. Das System sieht sich
selbst in Differenz zu seiner Umwelt.
"Das geschieht zum Beispiel in allen
Formen von Selbstdarstellung, denen die Annahme zu Grunde liegt, daß die Umwelt das
System nicht ohne weiteres so akzeptiert, wie es sich selbst verstanden wissen
möchte." (LUHMANN 1993, S. 602)
Selbstreferenz ist notwendig auf Grund der
Komplexität der Welt. Diese kann nämlich nicht widergespiegelt werden, sondern muß
durch selektives Arrangieren reduziert werden. Auch die Umwelt kann nicht abgebildet
werden. Allerdings ist es möglich, Differenzen im System einzurichten. Diese können auf
Differenzen in der Umwelt reagieren und somit Information für das System erzeugen.
Dadurch kommt es jedoch zur Notwendigkeit die Selbstreferenz einzuschränken, da sie sonst
auf die Unendlichkeit der Welt hin offen wäre.
Autopoiesis
Der Begriff Autopoiesis ist zusammengesetzt aus den
griechischen Begriffen "autos" = selbst und "poiein" = machen (vgl.
MOREL 1993, S. 191). Autopoietische Systeme sind also solche, die sich "selbst
machen" können. Selbstherstellung und Selbsterhaltung sind somit Grundeigenschaften
dessen, was als Autopoiesis bezeichnet wird.
Das Autopoiesis-Konzept wurde von den Biologen MATURANA und
VARELA entwickelt und bezeichnet die Tatsache, daß es Systeme gibt, die sich selbst
reproduzieren:
"Autopoietische Systeme sind operativ geschlossene
Systeme, die sich in einer basalen Zirkularität selbst reproduzieren, indem
sie in einer bestimmten räumlichen Einheit die Elemente, aus denen sie bestehen, in einem
Produktionsnetzwerk wiederum mit Hilfe der Elemente herstellen, aus denen sie bestehen
(MATURANA 1982, S. 58). Etwas vereinfacht ausgedrückt: ein autopoietisches System
reproduziert die Elemente, aus denen es besteht, mit Hilfe der Elemente, aus denen es
besteht." (WILLKE 1991, S. 43)
Nicht alle autopoietischen Systeme sind jedoch gleicher Art.
Vielmehr gibt es auch unter diesen Systemen verschiedene Klassen. LUHMANN nennt Sinn als
das Unterscheidungskriterium:
"Zum Beispiel sind soziale Systeme und psychische
Systeme gleich insofern, als sie Systeme sind. Es mag aber auch Gleichheiten geben, die
nur für Teilbereiche einer Vergleichsebene gelten. Zum Beispiel lassen sich psychische
und soziale Systeme, nicht aber Maschinen und Organismen durch Sinngebrauch
charakterisieren." (1993, S. 18)
Hier läßt sich die Abgrenzung zu den Ansätzen MATURANAS
und VARELAS aufzeigen: Soziale Systeme operieren mit Sinn. Organismen tun dies nicht. Für
die Beschreibung der Autopoiesis sozialer Systeme ist also eine eigene Theorie notwendig,
um dem unterschiedlichen Gegenstandsfeld gerecht zu werden.
Die allgemeine Systemtheorie ist also gemeinsame Basis der
verschiedenen systemtheoretischen Bereiche. Will man jedoch Sozialsysteme als
selbstreferentielle Systeme betrachten, so muß man sich zunächst mit dem grundlegenden
Begriff Sinn auseinandersetzen: Sinn tritt immer bezogen auf ein System auf. Er bezeichnet
die systemspezifischen Kriterien, nach welchen Passen und Nicht-Passen (im Bezug auf das
System selbst) abgewogen wird. Zwischen Systemen sind Interaktionen und Kommunikationen
nur durch deckungsgleiche Sinn-Inhalte möglich. Sinn kann sich in Normen, Werten, Rollen
etc. manifestieren. Im Laufe von Interaktionen bzw. Kommunikationen kann er aber auch neu
entstehen. Jeder Mensch muß sich an Sinn orientieren, ihn produzieren oder einfach
prozessieren. Allerdings ist das psychische System nicht das einzige, welches mit Sinn
operiert. Gleichermaßen tut es das soziale System. (vgl. WILLKE 1991, S. 193)
"Das Phänomen Sinn erscheint in der Form eines
Überschusses von Verweisungen auf weitere Möglichkeiten des Erlebens und Handelns. Etwas
steht im Blickpunkt, im Zentrum der Intention, und anderes wird marginal angedeutet als
Horizont für ein Und-so-weiter des Erlebens und Handelns. Alles, was intendiert wird,
hält auch die Aktualität der Welt in der Form der Zugänglichkeit." (LUHMANN 1993,
S. 93)
"Jede Sinnintention ist selbstreferentiell insofern, als
sie ihre eigene Wiederaktualisierbarkeit mitvorsieht, in ihrer Verweisungsstruktur also
sich selbst als eine unter vielen Möglichkeiten weiteren Erlebens und Handelns wieder
aufnimmt." (a.a.O., S. 95)
Nur durch Sinn ist also die Reproduktion der Elemente
psychischer und sozialer Systeme möglich. Sinn ermöglicht die Anschlußfähigkeit an
vergangenes Handeln oder vergangene Kommunikation und zeigt gleichzeitig neue
Möglichkeiten auf, die jedoch eine Selektion aus der Unendlichkeit der Möglichkeiten
darstellen. Sinn verweist also zunächst auf eine Vielzahl von Möglichkeiten, stellt aber
gleichzeitig eine Auswahl aus diesen dar.
Mit Hilfe von Sinn kann die Komplexität der Umwelt durch das
System reproduziert werden, ohne daß die gesamte Komplexität präsent sein muß:
"Die Besonderheit psychischer und sozialer Systeme liegt
darin, daß sie einen Grad von Eigenkomplexität und Umweltdifferenzierung erreicht haben,
der ihnen die Bildung interner Außenweltmodelle und mithin aufgrund interner reflexiver
Prozesse Selbstbewußtsein und die Thematisierung der eigenen Identität
ermöglicht." (WILLKE 1991, S. 31)
Die Außenweltmodelle sind zwar nicht gleich der Umwelt, sie
stellen jedoch die Voraussetzung für das System dar, sich in der Umwelt zurechtzufinden.
Systeme mit temporalisierter Komplexität
Bei Systemen, die nicht durch dauerhafte Elemente gebildet
werden, wird die Notwendigkeit von Autopoiesis in besonderer Weise deutlich. In Systemen
mit instabilen Elementen ist eine ständige Selbstreproduzierung unumgänglich: Ein
soziales System ist ein System, dessen Elemente nicht auf Dauer gestellt sind. Jede
Kommunikation vergeht sofort wieder, wenn sich nicht weitere Kommunikation daran
anschließt. Eine Gruppe zum Beispiel ist dann keine Gruppe mehr, wenn die Kommunikation
der Gruppenmitglieder aufhört. Die Elemente dieses Systems sind Kommunikationsereignisse.
Durch Autopoiesis werden diese Elemente reproduziert, jedoch nicht im Sinne einer
identischen Reduplikation, sondern im Anschluß an die vorhergehenden Elemente.
Eine Beziehung ist als soziales System somit beständig auf
anschlußfähiges kommunikatives Handeln angewiesen.
Autopoiesis ist das Neuhervorbringen anschlußfähiger
Kommunikation. Hierin zeigt sich aber auch die Instabilität dieses Systems, denn
Autopoiesis ist ständig erforderlich, damit überhaupt noch von einem System die Rede
sein kann:
"Dies soziale System gründet sich mithin auf
Instabilität. Es realisiert sich deshalb zwangsläufig als autopoietisches System. Es
arbeitet mit einer zirkulär geschlossenen Grundstruktur, die von Moment zu Moment
zerfällt, wenn dem nicht entgegengewirkt wird." (LUHMANN 1993, S. 167)
LUHMANN sieht gerade in der Erforschung der temporalisierten
Komplexität den Beitrag der Soziologie zur allgemeinen Systemtheorie, da diese ständige
Zerfallseigenschaft eine spezielle Eigenart sozialer und psychischer Systeme darstellt. In
Systemen mit temporalisierter Komplexität wird die Notwendigkeit von Autopoiesis
besonders deutlich. Gerade die Instabilität der Elemente macht eine ständige
Neuschaffung unerläßlich.
Interpenetration von Systemen
Das sich Durchdringen verschiedener autopoietischer Systeme
bezeichnet LUHMANN als Interpenetration. (a.a.O., S. 296)
Autopoiesis geschieht in sozialen Systemen dadurch, daß
Kommunikation weitere Kommunikation auslöst. Auch bei psychischen Systemen gibt es diese
geschlossene Reproduktion, allerdings schließt dort Bewußtsein an Bewußtsein an.
Soziale Systeme können ihre Reproduktion nur fortsetzen, wenn menschliches Leben und
Bewußtsein ebenfalls ihre Reproduktion fortsetzen. Ausschließlich in operativer
Geschlossenheit des jeweiligen Systems ist jedoch die Selbstreproduktion von Leben bzw.
von Bewußtsein möglich. Autopoiesis ist damit nur unter Umweltbedingungen möglich. Eine
solche Umweltbedingung ist für das Bewußtseinssystem die Gesellschaft, für die sozialen
Systeme ist es u.a. das psychische System usw.
Geschlossenheit und Offenheit der verschiedene Systeme
schließen sich also nicht gegenseitig aus, sondern sie stehen vielmehr in einem
Bedingungsverhältnis. Das soziale System, das Leben und Bewußtsein voraussetzt,
ermöglicht ebenfalls die Autopoiesis dieser anderen Systeme. Es ermöglicht nämlich,
daß sich diese in einem geschlossenen Reproduktionszusammenhang ständig erneuern
(LUHMANN 1993, S. 297). Dabei ist es nicht notwendig, daß das psychische System und das
organische Leben sich dessen "bewußt" sind. Die Autopoiesis dieser beiden
Systeme muß jedoch so eingerichtet sein, daß die Geschlossenheit letztlich zu Offenheit
dienen kann.
Interpenetration ist nur möglich, wenn sie verschiedene
Arten von Autopoiesis miteinander verbinden kann. Voraussetzung für diese Verbindung ist
Sinn: "Sinn ermöglicht das Sichverstehen und Sichfortzeugen von Bewußtsein in der
Kommunikation und zugleich das Zurückrechnen der Kommunikation auf das Bewußtsein der
Beteiligten." (ebd., S. 297)
Sinn kann als ein Prozessieren nach Differenzen bezeichnet
werden. Man kann desweiteren sagen, daß Sinn selbst ein selbstreferentielles System
darstellt (ebd., S 101). Bei diesem Prozessieren ist es nämlich notwendig, daß eine
Offenheit nach außen besteht, für die jedoch eine innere Geschlossenheit Voraussetzung
ist. Sinnsysteme können "Sinnangebote" von außen annehmen oder nicht. Die
äußeren Einflüsse werden vom Sinnsystem also selbst verarbeitet. Das Sinnsystem
entscheidet selbst, was es daraus "macht" - mit anderen Worten, ob es das
Äußere in seine eigene Autopoiesis mit einbaut.
Aber selbst wenn das Sinnsystem dies macht, gibt es keine
direkte Manipulationsmöglichkeit von außen. Dem System bleibt es nämlich immer noch
freigestellt, wie der Einfluß von Außen aufgenommen wird. Der von außen hinein gegebene
Sinn kann intern nämlich auch als "Anti-Sinn" (im Sinne der Intention von
außen) eingebaut werden.
Das sind Erfahrungen, die man in der Alltagswelt häufig
macht: Man teilt jemandem etwas als äußerst wichtig mit; den anderen interessiert dies
aber nicht oder er deutet diese Mitteilung sogar ins Gegenteil um. Besonders bei Kindern
zeigt es sich oft, daß man ihnen etwas erklärt, sie dem Erklärten aber eine völlig
andere Bedeutung geben. Solche Erlebnisse werden in unserer Alltagswelt dann
Unverständnis oder Mißverständnis genannt. Im Sinne der Theorie selbstreferentieller
Systeme muß dies folgendermaßen beschrieben werden: Im Sinnsystem des zuhörenden
psychischen Systems ist nicht die gleiche Anschlußfähigkeit vorhanden wie im
mitteilenden System. Das Sinnsystem des Zuhörers prozessiert Sinn durch Selbstreferenz
und Autopoiesis, also in einer inneren Geschlossenheit, die offensichtlich stark abweicht
von dem, was im Sinnsystem des Erzählenden prozessiert wird.
Die Unterschiedlichkeit von Deutungen kann mit dieser Theorie
gut aufgezeigt werden: Es gibt in menschlichen Beziehungen mehrere Sinnsysteme. In einer
pädagogischen Beziehung hat der Pädagoge ein anderes Sinnsystem als der Klient. Ein
drittes Sinnsystem verbindet die beiden, da es der Beziehung als sozialem System
zuzurechnen ist. Keines der beteiligten Systeme hat die gleiche Genese, deshalb wird jedes
Sinnangebot in einem anderen Sinnsystem einen anderen Zusammenhang bilden.
Durch das Konzept der selbstreferentiellen Systeme wurde eine
Wende in der Systemtheorie vollzogen: Es geht nun bei der Analyse eines Systems nicht mehr
um eine Einheit, die ganz bestimmte Eigenschaften zeigt; es geht nun vielmehr darum, ob
die Reproduktion von Elementen des Systems durch "relationales Arrangieren"
weitergeht oder nicht. Wenn es um die Erhaltung des Systems geht, ist damit die
"Erhaltung der Geschlossenheit und Unaufhörlichkeit der Reproduktion von Elementen,
die im Entstehen schon wieder verschwinden" (a.a.O., S. 86) gemeint.
Autopoiesis ist somit zum Zentralbegriff geworden, der immer
mit einbezogen werden muß, wenn von sozialen Systemen die Rede ist.
Zusammenfassung
Neben der Einführung der speziellen Begrifflichkeit wurde
die Unterscheidung zwischen sozialem und psychischem System vollzogen. Beide prozessieren
zwar mit Sinn; innerhalb einer menschlichen Beziehung muß allerdings zwischen drei
beteiligten Sinnsystemen unterschieden werden. Es handelt sich um zwei psychische Systeme
(Person a Person b) und um ein soziales System, das die Beziehung darstellt. Keines
der beteiligten Systeme ist jedoch auf ein anderes System zurückführbar. Die
verschiedenen Systeme interpenetrieren sich - sie verändern sich wechselseitig in einer
gemeinsamen Co-Evolution durch die jeweilige Anschlußfähigkeit. Keines der Systeme kann
dabei aber direkt auf das Sinnsystem des anderen Systems Einfluß nehmen, es bietet jedoch
Sinnangebote an.
Die Systemtheorie zeigt Möglichkeiten und Grenzen
kommunikativer Beeinflussung gleichzeitig auf:
Durch Kenntnis und Anteilnahme am Sinnsystem des anderen kann
die Anschlußfähigkeit erhöht werden. Kommunikation kann also dadurch verbessert werden,
daß die "Sprache" des Gegenübers und weniger die eigene "Sprache"
benutzt wird. Die Kenntnis der möglichen Anschlußfähigkeit kann sowohl didaktisch
genutzt werden, um Inhalte zu vermitteln, als auch für den Identitätsfindungsprozeß des
anderen sensibel machen.
Die Grenzen des Machbaren werden dabei deutlich: das
Sinnsystem eines anderen kann nur ansatzweise antizipiert werden. Wollte man alle
Zusammenhänge verstehen, müßte man alle Lebensereignisse nachvollziehen, die sich
innerhalb der gesamten Existenzspanne ereignet haben. Durch die operative Geschlossenheit
des anderen sind die Grenzen des Möglichen vorgezeichnet. Das System selbst entscheidet,
wie es reagiert - selbst wenn es von außen noch so widersinnig erscheint: in seinem
Sinnsystem macht es Sinn! Intern besteht also immer Anschlußfähigkeit.
Literatur:
LUHMANN, Niklas: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen
Theorie. Frankfurt a.M. 1993.
MATURANA, Humberto R.: Erkennen. Die Organisation und
Verkörperung von Wirklichkeit. Braunschweig 1982.
MATURANA, Humberto R. / VARELA, Francisco: Der Baum der
Erkenntnis. Bern 1987.
MOREL, Julius et al.: Soziologische Theorie. Abriß der
Ansätze ihrer Hauptvertreter. München 1993.
WILLKE, Helmut: Systemtheorie. Stuttgart, New York 1991.
Mainz 2012 (Erstveröffentlichung der
Ursprungsversion: 1997)
Joachim Wenzel
Siehe auch:
Systemtheorie
www.systemische-beratung.de